Schattenturmgeschichte von Marcel Zischg

Das Baby lag am Meer. Ein kleiner Junge in der prallen Sonne, im Sand, mitten zwischen den Liegen. Es schrie. Aber keiner hob es auf oder ging zu ihm. Alle dachten, seine Mutter ist nicht weit.

Jahre später war der Junge zwölf und erinnerte sich an nichts mehr. Er machte Urlaub am Meer mit seinen Eltern und seinem siebzehnjährigen Bruder. Sein älterer Bruder blieb oft im Hotelzimmer, denn er hatte ein Hitzefieber gehabt und musste die Sonne meiden. Die Eltern waren gerade mit ihm am Strand. Es war mittags. Sein Vater las Zeitung, und seine Mutter bräunte sich. Dem Jungen war langweilig. „Darf ich einen Spaziergang am Strand machen?“ „Ja, natürlich“, sagten die Eltern, „aber geh nicht zu weit und komm bald wieder!“ Der Junge ging los. Er trug zum Sonnenschutz ein T-Shirt über seiner Badehose, denn es war brütend heiß. Er hörte aufgeregte Stimmen und Schreie. Irgendein amerikanischer Song klang aus der Strandbar herüber. Die Kinder am Strand hatten Spaß. Sie spielten Volleyball und Boccia.

Der Junge wollte nicht mit anderen Kindern spielen, denn er war schüchtern, aber gleichzeitig wünschte er sich Gesellschaft, und so stimmte er zu, als ein Junge auf ihn zulief und ihn fragte: „Willst du mitspielen?“ Der Junge spielte mit einigen italienischen Kindern Volleyball. Aber er hatte einen schlechten Aufschlag und traf mehrere Male das Netz. Als zwei Mädchen kicherten, lief er weg. Vor ihm, in einiger Entfernung, ganz am Ende des Strandes, erhob sich ein hoher Turm. Er konnte nicht genau erkennen, was für ein Turm es war; er sah nur die Umrisse eines schwarzen Etwas. Die Sonne beschien den Turm von hinten, und das mächtige Bauwerk wirkte vor ihrem Licht wie ein blauer Schatten. Der Junge lief auf den Turm zu, bis er plötzlich im Sand ein Baby entdeckte, einen kleinen Jungen. Es schrie in der Hitze. Er nahm das Baby, hob es auf und wollte es zu dem Schattenturm tragen. Da schrie das Baby noch lauter als zuvor, und seine Mutter, die jetzt herbei eilte, rief: „Haltet den Jungen!“ Der Junge wollte das Baby zu dem Schattenturm bringen, aber plötzlich war er nicht mehr sicher, ob es überhaupt ein richtiger Turm war. Vielleicht war es auch nur ein riesiger Schatten. Bald hatte die Mutter des Babys ihn eingeholt. Sie nahm ihm das Kind weg und weinte. Ein paar andere Badegäste packten den Jungen grob und führten ihn zurück. Er fragte: „Wie weit wäre es noch bis zu dem Schattenturm gewesen?“ Da schüttelte der Mann, der ihn an der Hand führte, den Kopf und sagte verächtlich: „Das ist kein Turm. Das ist ein Hotel.“

Der Junge wurde zurückgebracht zu seinen Eltern. Als die Mutter erfuhr, was geschehen war, weinte sie und erzählte: „Er hat sich wohl wieder an dieses furchtbare Erlebnis damals erinnert. Er war noch ein Baby, damals. Es war alles unsere Schuld. Wir waren am Strand eingeschlafen, und er lag in der prallen Sonne im Sand und hat geschrien. Aber kein Badegast hat ihn beachtet, und weil sein älterer Bruder immer so eifersüchtig war auf ihn, hat er den Kleinen einfach weggebracht, ist mit ihm in Richtung Hotelturm gelaufen und hat ihn irgendwo unten am Meer ausgesetzt. Dann kam er ohne ihn wieder. Zum Glück brachte ein netter Junge das Baby uns zurück. Der war auch zwölf.“ Der Junge schämte sich, als er das hörte. Er konnte sich an nichts erinnern. Plötzlich sah er einen langen Schatten in der Sonne, der über den Strand auf ihn zulief. „Was ist denn los?“, fragte der Schatten. Es war der ältere Bruder. „Warum braucht ihr so lange, um ins Hotel zu kommen? Das Mittagessen ist schon vorbei!“ „Dein Bruder hat eine furchtbare Dummheit gemacht!“, sagte der Vater und erzählte, was geschehen war.
Als der ältere Bruder es hörte, lachte er laut. An die Schattenturmgeschichte erinnerte er sich gar nicht. Kein bisschen.

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